Montag, 3. Mai 2010

Die Produktion und die Zeit

Alle grossen Ökonomen haben sich ausgiebig mit dem Problem der Zeit beschäftigt. Alfred Marshall bemerkte, dass sein partialökonomisches Angebots- und Nachfrageschema die Zeit ausklammert, und erkannte, dass das Problem der Zeit der Dreh- und Angelpunkt jedes ökonomischen Problems ist. Keynes schrieb seine Dissertation über das Problem einer Wahrscheinlichkeitsrechnung in der unsicheren Zeit. Böhm-Bawerk erkannte, dass man Kapital mit Zeit messen könnte, und legte so den Grundstein für spätere Theorien. Weiter waren sich alle grossen Oekonomen bewusst, dass der Schlüssel zum makroökonomischen Verständnis in der Geldtheorie liegt. Deshalb haben sich Smith, Marx, Ricardo, Wicksell, Schumpeter, Keynes und Kaldor allesamt ausgiebig mit Geldtheorie beschäftigt, mit der Frage also, was die Natur von Geld sei. Heutige Ökonomieprofessoren denken kaum über solche Themen nach. Man gebraucht in heutigen ökonomischen Modellen statische und dynamische Analysen, wobei die dynamische Analyse eine blosse Aneinanderreihung unendlich vieler statischer Analysen darstellt, und deshalb das Problem der Zeit nicht löst, sondern einfach durch die Annahme eines kontinuierlichen Zeitverlaufs übergeht. Die Einheiten in statischen und dynamischen Modellen sind dieselben. Geld wird von vielen Ökonomen derweil immer noch als eine Art Gut behandelt, dessen Wert auf seiner Knappheit beruht - seine buchhalterische, dimensionslose Natur wird per Annahme umgangen.

Das ökonomische Problem der Zeit und des Geldes wurde vom französischen Ökonomen Bernard Schmitt auf eine ganz neue Weise aufgerollt. Seine Theorien werden erst von einer Handvoll Professoren unterrichtet: sein Buch "Inflation, Chômage et Malformations du Capital" liegt verstaubt in einigen wenigen Bibliotheken, unübersetzt und out of print. Dabei greift er in diesem 1984 geschriebenen Buch jede bisherige populäre Makroökonomik von Quesnay bis Friedman an. Seine Theorie wurde noch von keinem Anhänger einer anderen ökonomischen Schule widerlegt. Dass dieses Buch unbemerkt in den Bibliotheken verstaubt, ist eine Tragödie, zumal Schmitt in dem Buch sehr konkrete buchhalterische Lösungsvorschläge dafür liefert, wie Inflation, systemische Arbeitlosigkeit und das Problem der Schulden zwischen Staaten in einer Welt mit Ankerwährungen bekämpft werden können.

Eine warnende Vorbemerkung: der erste Teil wird dem Leser unnötig wortreich und abgehoben erscheinen. Da erging es mir nicht anders. Je länger man jedoch darüber nachdenkt, desto wichtiger erscheint die Analyse der Zeit in der Ökonomie, denn von ihr hängt die Frage ab, ob wir die ökonomische Realität mit Gleichungssystemen à la Walras erklären können. Nur in einer Welt mit kontinuierlicher Zeit kann man Ökonomik mit linearer Algebra betreiben; denn dies setzt voraus, dass wir das zentrale ökonomische Phänomen (Produktion) als Funktion eines anderen Phänomens (Zeit) beschreiben können. Wir müssen beweisen, dass dies nicht geht, dass Produktion keine Funktion der Zeit ist, um den Raum für eine völlig neue Makroökonomie zu öffnen.

Es folgt ein Abriss Bernard Schmitts Argumentation über die Produktion und die Zeit, die Grundlage seiner Theorie.

Man denkt heute, dass die Produktion, weil sie eine Bewegung ist, eine Art Geschwindigkeit sei: Ein Raum, der innerhalb einer Zeiteinheit durchlaufen wird. Mechanisch gesprochen heisst das:

  • Produkt = Produktion * Zeiteinheit

Ökonomen gehen also analog den Gesetzen der Mechanik vor, die besagt:

  • Distanz = Geschwindigkeit * Zeiteinheit

In der klassischen Mechanik ist klar: ein Objekt durchläuft innerhalb einer gewissen Zeiteinheit einen Raum. Am Ende wurde eine Distanz zurück gelegt.

Aber welchen Raum durchläuft die Produktion? Wenn die Antwort darauf lautet, dass das Produkt selbst dieser Raum ist, macht man zwei widersprüchliche Aussagen:

  • Wenn es wahr ist, dass Produktion = Produkt pro Zeiteinheit ist,
  • dann ist es absurd, das Produkt als den Raum zu verstehen, der von der Produktion durchlaufen wird; denn das Produkt kann vor der Produktion nicht existieren.

Um Widersprüche zu reduzieren, muss man Logik einsetzen. Die Produktion ist einzigartig, weil sie eine Bewegung ist, die den Raum "vor sich" kreiert, während die klassischen Bewegungen Verschiebungen in einem vorher definierten Raum sind. Die Bewegung muss sich also ihren Raum in der Verschiebung selbst schaffen. Dies ist ein eleatisches Paradoxon, genannt nach dem griechischen Logiker Zenon von Elea (bekannt durch den Trugschluss von Achilles und der Schildkröte).

Die Distanz zwischen Achilles und der Schildkröte wird "ewig" halbiert, und Achilles wird der Schildkröte deshalb "ewig" hinterher rennen müssen. Genauso wie das Paradoxon der Produktion, kann das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte nicht in der kontinuierlichen Zeit gelöst werden.

Jede Produktion, die sich in der unendlich kleinen Zeiteinheit vollzieht, resultiert in einem unendlich kleinen Produkt. Im Gegensatz dazu ist eine Geschwindigkeit innerhalb einer unendlich kleinen Zeiteinheit immer noch genau gleich gross wie die Geschwindigkeit innerhalb einer unendlich grossen Zeiteinheit. Während in der klassischen Physik die Distanz = Geschwindigkeit mal Zeiteinheit ist, kann sich die Ökonomie dieser mechanischen Betrachtung nicht bedienen, wenn sie die Gesetze der Logik nicht verletzen will. Das Produkt ist nicht gleich der Produktion mal Zeiteinheit, da Produktion und Produkt dasselbe Mass haben. Produktion ist demnach keine Geschwindigkeit. Die Produktion muss, wenn sie nicht logisch widersprüchlich sein will, definiert sein in der unteilbaren, der Quanten-Zeit. Die Produktion im Kontinuum, wie sie von der Wirtschaftstheorie angenommen wird, existiert auf diesem Planeten nicht. Die heutigen Wirtschaftstheorien beschreiben so im besten Fall die Wirtschaften irgend eines entfernten Planeten, auf dem andere logische Gesetze gelten.

Anders, vielleicht deutlicher ausgedrückt: teilt man die Produktion in unendlich viele kleine Produktionsperioden, so muss die Produktion innerhalb einer einzigen unendlich kleinen Periode entweder null oder positiv sein. Die Summe dieser unendlich vielen nullen ist wiederum null; die Summe unendlich vieler positiver Produktionsschritte ist unendlich gross. Beide Aussagen decken sich nicht mit der Realität. Und die Dinge können nicht anders sein, als sie sind.

Wenn wir die Zeit in immer kleinere Parzellen unterteilen, wenn wir die Unterteilung ins Unendliche treiben, so verschwindet blöderweise das Phänomen, das wir eigentlich erklären wollten: das Produkt.

Das Paradoxon von Zenon löst sich also auf, sobald wir uns in die Welt der unteilbaren Zeit begeben. Hier zeigt sich, dass Produktion keine Bewegung im Raum, sondern in der Zeit ist; sie quantiziert Zeit und schafft deshalb einen Raum: das Produkt. Jedoch sind die Resultate der Produktion von vielen Menschen, die Produkte, nicht untereinander vergleichbar, sie sind heterogen. Die Masse (weich gesprochen) verschiedener Produkte gehören nicht derselben Dimension an. Es gibt unendlich viele Attribute, anhand deren ein Produkt umschrieben werden kann: Farbe, Form, Alter, Länge, Gewicht, etc... Um die Ökonomie wissenschaftlich betreiben zu können, müssen diese heterogenen Produkte homogenisiert werden. Sprich auf eine gemeinsame Dimension gebracht werden. Die Homogenisierung der Produkte geschieht erst durch die Einführung von Zahlen. Dies ist die Funktion des Geldes: ein Wertmassstab. Das Geld ist die sina qua non-Bedingung für die Existenz eines Numéraire. Die logische Verbindung von Geld mit Produktion ist somit die erste Aufgabe für eine wissenschaftliche Ökonomie. Der Mainstream stellt sich noch heute vor, dass die Nationalbank durch einen geheimnisvollen Mechanismus "Geld ins System pumpt" - als wäre dies eine hydraulische Operation - und bleibt infolgedessen völlig ignorant gegenüber der Funktionsweise moderner Zahlungssystemen. Dadurch haben wir heute eine faktische Trennung der Wert-, Geld- und der Produktionstheorie.

Nachdem also ein Quantum von Zeit vergangen ist, entsteht augenblicklich ein Produkt, welches die Menge Zeit ökonomisch definiert. Dies geschieht dann, wenn der Arbeiter für seine Arbeit bezahlt wird. Das folgende passiert:

Das Unternehmen verschuldet sich bei der Bank, um dem Arbeiter einen Lohn ausbezahlen zu können. Gleichzeitig verschuldet sich die Bank beim Arbeiter, der den Lohn bezieht. De facto verschuldet sich die Unternehmung also indirekt beim Lohnbezüger; der Lohnbezüger gewährt der Unternehmung via die Bank einen Kredit in der exakten Höhe seines Lohns. Buchhalterisch geschieht das folgende: wenn das Unternehmen die Schuld eingeht, schreibt die Bank auf der Aktivseite der Bankbilanz eine Zahl, -x$. Genau gleichzeitig geht beim Arbeiter ein Lohn von +x$ ein, welcher auf der Passivseite der Bank notiert wird. Das Depot auf der Passivseite und das Depot auf der Aktivseite sind zwei Aspekte derselben Realität, untrennbar miteinander verbunden: das eine Depot lebt und stirbt durch das andere. Geld ist nun derjenige augenblickliche Fluss, der die zwei Depots schöpfte. Sobald die Transaktion beendet wird, erlischt der Fluss, und die Depots bleiben übrig. Geld existiert somit nur während einer Transaktion, und zwischen den Transaktionen existieren Depots. Während Geld die Funktion des Zahlungsmittels hat, ist das Depot ein Wertaufbewahrungsmittel.

Das Depot des Arbeiters auf der Passivseite der Bank entsteht natürlich durch die Auszahlung seines Einkommens. Dieses Depot "Geld" zu nennen, ist in etwa so verdreht, wie wenn wir der erdzugewandten und der erdabgewandten Seite des Mondes zwei verschiedene Satellitennamen gäben. Beide Mondseiten sind die zwei Aspekte desselben Objektes - des Mondes. Genauso sind das positive Depot des Arbeiters und das negative Depot (die Schuld) der Unternehmung zwei Aspekte derselben Realität. Geld ist deshalb ein Aktivum-Passivum: ein Fluss, der zur Schöpfung eines negativen und eines positiven Depot führt. Das Passivdepot kann nur in Verbindung mit seiner dazugehörigen Zahl auf der Aktivseite existieren, und beide Depots werden durch einen Fluss von Geld, der sich augenblicklich selbst erschöpft, kreiert.

Die Monetarisierung der Produktion durch Banken schafft Einkommen. Nicht umgekehrt. Das vermuteten schon die englischen Banker des 18. Jahrhunderts (Banking School). Knut Wicksell, Schumpeter, Keynes, Kaldor - sie alle waren dem auf der Spur. Sie bemerkten durch Beobachtung und logisches Denken, dass eine Kreditvergabe (= Schöpfung eines Aktivdepot) zu einem entsprechenden Einkommen auf der Passivseite führte. Sie wussten: Es braucht keine vorherigen Ersparnisse, um investieren zu können. Ersparnisse sind der buchhalterische Fussabdruck von Investitionen. Keynes schrieb deswegen ein wenig kryptisch, dass es einer Wirtschaft zwar an Investitionen mangeln kann, aber niemals an Ersparnissen - denn die Investitionen rufen ihre Ersparnisse hervor. Dies meinte er mit S=I. S=I ist keine Gleichgewichtsbedingung, es gibt keinen Anpassungsmechanismus. S=I ist eine logische Identität, die in jedem Zeitpunkt aus logischen Gründen erfüllt sein muss. John K. Galbraith schrieb einmal: "The process by which banks create money is so simple that the mind is repelled". Banken schreiben eine Zahl auf die Aktivseite, wodurch augenblicklich eine Zahl auf der Passivseite entsteht. Was Galbraith verpasste, war die Verbindung des Prozesses der endogenen Geldschöpfung mit dem Produktionsprozess.

Was ist nun Einkommen? Einkommen ist das vom Arbeiter geschaffene Produkt in seiner numerischen Form. Nur so macht das Gesetz der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Sinn: Produktion = Einkommen. Die Bezahlung des Lohnes stellt einen absoluten Tausch dar: im exakten Moment der Lohnzahlung wird physischer Output mit sich selbst getauscht durch die Intermediation von Geld und Banken. Das Produkt löst sich von seiner physischen Form, um sich in eine numerische Form zu tauschen: Einkommen. Die Assoziation des Einkommens mit dem Produkt, die Adam Smith als "the Great Wheel of Circulation" erkannte, definiert den numerisch ausdrückbaren Wert des Produktes und gleichzeitig die Kaufkraft des Einkommens. Ein zweiter absoluter Tausch erfolgt im Moment des Konsums. Das Einkommen des Arbeiters tauscht sich gegen sich selbst auf dem Produktemarkt mit dem Produkt aus, wodurch das Einkommen des Arbeiters und die Schuld der Unternehmung gleichermassen und gleichzeitig zerstört werden. Dies muss so sein. Wenn Produktion zur Schöpfung eines Einkommens führt - dies wird niemand abstreiten - muss Konsum dieses Einkommen zerstören; ansonsten würden sich die Einkommen ad infinitum auftürmen. Das Produkt existiert nach dem Konsum nicht mehr ökonomisch, sondern bloss noch in Form eines Konsumentennutzen. (Ein späterer Wiederverkauf desselben Produktes ist monetär gesehen bedeutungslos - dies ist bloss ein Tausch von Einkommen gegen ein Gut, ein relativer Tausch also, ohne jegliche Wirkung auf die Kaufkraft des Geldes)

Versteht man mich?

2 Kommentare: